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In der Überschrift des Nest-Telegramms haben wir's angedeutet: "Kurznachrichten rund um die NestKameras der Aktion PfalzStorch - und hin und wieder ein Blick über den Nestrand hinaus." Heute ist es mal wieder soweit: ein Blick über den thematischen Tellerrand ;-)
Jeder, der schon einmal im Südwesten Spaniens (z.B. Extremadura) unterwegs war, sieht die faszinierenden Thermik-Großsegler meist mehrmals täglich: Weißstörche, Gänsegeier und Mönchsgeier. Hin und wieder kreisen sie sogar gemeinsam im Aufwind. Durch drastisch geänderte EU-Hygienevorschriften geraten immer mehr Geier in Not und auf der Suche nach Nahrung kommen sie als Hungerflüchtlinge auch in unsere Breiten. Die Situation ist für die fliegenden "Gesundheitspolizisten" bei uns allerdings noch wesentlich schlechter als im Süden Europas, etliche Geier wurden schon vollkommen geschwächt aufgefunden.
Aktuell gibt es in Deutschland wie schon 2006 zahlreiche Sichtungen von Geiern (meist Gänsegeier). Schon im April waren einzelne Gänsegeier nahe Mainz in Rheinland-Pfalz, im Nordschwarzwald, in Bayern, Schleswig-Holstein und bei Celle in Niedersachsen aufgetaucht. Über 20 Tiere sind Anfang der Woche über Mönchengladbach geflogen, meldeten zwei Vogelkundler am 22. Juni dem "Club 300", einer Ornithologen-Plattform im Internet.
Aus der Pfalz liegen zur Zeit mind. zwei Meldungen vor:
22. Juni: A. Stock und K.H. Stahlheber berichten von 5 Gänsegeiern, die in der Südpfalz beobachtet wurden.
Quelle: http://www.nabu-pflanzen-tiere-rheinland-pfalz.de/
24. Juni: zwei uns persönlich bekannte Beobachter aus Mörzheim (bei Landau/Pfalz) sichten am Vormittag sieben in der Thermik kreisende (Gänse)Geier (mit Spektiv beobachtet).
Gänsegeier: faszinierende Großsegler mit bis zu 2.80 Meter Spannweite
Hintergrund und Ursachenanalyse
Quelle: Strategiepapier des NABU-Bundesverbandes
http://www.nabu.de/imperia/md/content/nabude/vogelschutz/23.pdf
http://www.nabu.de/m05/m05_03/06733.html
Das wiederholte Auftreten von Geiern in Deutschland deutet auf eine "Hungerflucht" hin, da die europäischen Hygiene-Richtlinien in Spanien und Portugal zunehmend umgesetzt werden, wodurch Kadaver in immer geringerem Umfang in der Landschaft verbleiben.
Im Einzelnen sind die zunehmenden Einflüge der Geier vor dem Hintergrund folgender Rahmenbedingungen und Entwicklungen zu sehen:
Seit 2002 verlangt die EU-Hygieneverordnung Nr. 1774 die umgehende Beseitigung von Tierkadavern. In der EU ist die damit aufkommende Problematik für aasfressende Vogelarten schon bald erkannt worden. Mit Entscheidung vom 12. Mai 2003 hat sie daraufhin die Durchführungsverordnung 2003/322/EG erlassen. Diese ermöglicht betroffenen Mitgliedstaaten, zur Sicherstellung der Versorgung aasfressender Vogelarten Ausnahmen zuzulassen. Danach können auch "ganze Körper toter Tiere (...) zur Fütterung gefährdeter oder geschützter Arten Aas fressender Vögel" ausgebracht werden.
Die Gültigkeit dieser Durchführungsbestimmung beschränkt sich allerdings bisher auf die seinerzeit beantragenden Länder Spanien, Portugal, Frankreich, Italien und Griechenland. Diese machen hiervon auch Gebrauch. So hat Spanien erst kürzlich 260.000 Euro in ein Netz von 25 genehmigten Futterplätzen für die kontrollierte Ernährung von Geiern investiert.
Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die auf der Durchführungsverordnung beruhenden Maßnahmen den Verlust gegenüber früher in der Landschaft vorhandenen Kadavern bei weitem nicht ausgleichen können. So stehen in der Region Aragonien 1.000 geschlossenen "Muladares" nur 25 wieder aufgemachte gegenüber (HAAS, Vögel 01/07, S. 49).
Folgen der Nahrungsknappheit durch die EU-Hygieneverordnung Nr. 1774
Anhaltspunkte dafür, dass die EU-Hygieneverordnung Nr. 1774 zu Nahrungsengpässen in Geier-Brutgebieten führt, hat unter anderem der spanische BirdLife-Partner SEO festgestellt. Für Geier verfügbares Aas ist demnach großräumig seltener geworden.
Die zunehmende Nahrungsknappheit hat zu folgenden Konsequenzen geführt:
1. Wie erste Zahlen belegen, ist der Bruterfolg des Gänsegeiers in Spanien seit 2003 deutlich zurückgegangen. 2006 ist gebietsweise nur ein Viertel der üblichen Jungenzahl flügge geworden.
2. In den Brutgebieten werden zunehmend entkräftete Geier aufgefunden, die in Pflegestationen versorgt werden müssen. Die in Deutschland ankommenden Vögel leiden ebenfalls unter einem schlechten Ernährungszustand.
3. Es werden Verhaltensänderungen beobachtet wie das vermehrte Auftreten von Geiern an Mülldeponien, das Schädigen lebender Weidetiere, und nicht zuletzt die sehr weiträumigen Suchflüge nach Nahrung.
Fazit:
Die auf Druck südeuropäischer Vogelschützer bereits 2003 erlassene Ausnahmeverordnung reicht bei weitem nicht aus, um den Nahrungsmangel der europaweit geschützten Vögel auszugleichen. Der Hunger treibt die Geier auf Wanderschaft. Doch auch hier werden die Tiere nicht fündig. Aus Sicht des NABU kann den Tieren, die bis nach Süd- und Westdeutschland vordringen, dauerhaft nur durch die Entwicklung von großräumigen Weidelandschaften geholfen werden: Da immer wieder mit Geiereinflügen zu rechnen ist, sollte den Vögeln eine Überlebensperspektive ohne menschliche Zufütterung ermöglicht werden. Eine solche Perspektive böten große Weideprojekte, in denen ganzjährig auf sich gestellte Wildpferde- und Rinderherden die Landschaft durch ihre Weidetätigkeit pflegen und gestalten. Wenn in solchen Weideprojekten Tierkadaver anfallen, könnten diese ein Nahrungsreservoir für die Geier bilden. Natürlich verstorbene Wildtiere würden dann in der Landschaft verbleiben. So etwas ist heute schon in den Niederlanden gegeben, beispielsweise in der großen Weidelandschaft Oostvarderplassen. Eigens bewirtschaftete Geierfutterplätze würde der NABU nur als Übergangslösung befürworten, wenn Aussichten auf die oben genannte Weidebewirtschaftung mit einem natürlicherweise anfallenden Nahrungsangebot bestünden.
Nach Ansicht des NABU sind Bund und Länder gefordert, gezielt Planungen vorzubereiten und zu unterstützen, die der Realisierung solcher Wildnisprojekte dienen. Entwickeln ließen sich solche großräumigen Weidelandschaften zum Beispiel in Nationalparken, auf ehemaligen Truppenübungsplätzen oder in Gebieten des Nationalen Naturerbes - genügend Möglichkeiten also, solche ambitionierten Projekte umzusetzen und dem Geier als Zielart ausgedehnter Weidelandschaften auch hier in NRW wieder ein Überleben zu ermöglichen.
Gleichzeitig seien auf internationaler Ebenen Vertreter der Agrarpolitik, des Veterinärwesens und des Artenschutzes aufgefordert Lösungen für die Hungerflucht der Geier in ihrer Heimat zu finden. Die EU-Hygieneverordnung dürfe nicht, indem sie den Geierbeständen nachhaltig die Lebensgrundlage entzöge, die Ziele der EU-Vogelschutzrichtlinie gefährden, so der NABU in seinem Strategiepapier zum länderübergreifenden Schutz europäischer Geier.
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2 Kommentare:
Eine derartige Umorientierung wäre sehr wünschenswert, doch denke ich, dass Projekte wie "...die Entwicklung von großräumigen Weidelandschaften..." und "...große Weideprojekte, in denen ganzjährig auf sich gestellte Wildpferde- und Rinderherden die Landschaft durch ihre Weidetätigkeit pflegen und gestalten." wohl an der Bereitschaft, finanzielle Mittel bereitzustellen, scheitern werden.
Gruß,
Sven
Wozu soll das gut sein für die Geier eine Ernährungsgrundlage außerhalb ihrer angestammten Lebensräume zu schaffen?
Dieser Versuch ist kindisch, er kann in dicht besiedeltem Gebiet, wie die BRD, nur scheitern.
Laßt besser die Finger von der Natur, die braucht den Menschen ganz bestimmt nicht.
MfG Albrecht
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